Niemand muss Sachsen sein.

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Manchmal, wenn ich hier im Westen auf Partys bin und mich jemand fragt, wo ich herkommen, dann sage ich gerne: „Juten Tach, isch bin de Ronny ausm Oösten.“. Das mache ich, weil ich damit fast jede Westdeutschen zum Lachen bringe, aber warte mal. Es gibt Westdeutsche? War da nicht was mit der Wiedervereinigung und so? Bin ich ein Ostdeutscher? Bin ich überhaupt Deutscher? Ich fühl mich irgendwie nicht so.

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Am Wochenende habe ich meine Familie besucht und die lebt in Sachsen-Anhalt. Da bin ich aufgewachsen. Von dort bin ich weggezogen, wie viele meiner Freunde. Als ich meinen Schulabschluss machte, war es fast schon so, als hätte man eine Goldmedaille gewonnen, oder hätte es gerade noch so aus einem brennenden Haus geschafft, wenn man eine Ausbildungsstelle hatte. Das unterschreiben eines Arbeitsvertrages war wie eine rettende, helfende Hand. Man fühlte sich in Sicherheit und alle waren unglaublich erleichtert. Ich bin in einer Generation aufgewachsen, der man gesagt hat, dass sie weggehen muss. Dass sie Arbeit in der Heimat nicht finden, oder sie dort schlechter bezahlt sein wird. Geht, oder ihr seid die Verlierer der Gesellschaft und niemand verliert gerne. Heute sehe ich mich weder als Verlierer, oder Gewinner, wenn ich zurückkehre.

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Ich bin zufrieden. Ich hab über mein Leben immer selbst entschieden und alle um mich, haben mich unterstützt. Ich habe das Gefühl, ich kann mich frei entfalten. Ich kann leben, wie ich möchte, wo ich möchte und mit wem ich möchte. Ich bin frei und es ist der großartigste Luxus überhaupt. Wenn ich zurückkehre, mich umsehe und an Supermarktkassen stehe, dann stehen da in meiner Schlange frustrierte, ausgelaugte, desillusionierte Menschen, die sich irgendwie mit ihrer Lage abgefunden haben. Das gilt sicherlich nicht für jeden, der dort lebt, aber für einige dafür umso mehr. Mancher Orts spürt man die Überalterung, wenn man tiefer nach Sachsen-Anhalt reinfährt, aber selbst 30km hinter der Grenze ist das durchaus präsent. Die Grenze gibt es zwar physisch nicht mehr, aber durchaus und gerade wieder stärker in den Köpfen, egal ob im Osten, oder im Westen.

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Ich war also bei meiner Familie und ich unterhielt mich mit meiner Großmutter. Ich habe sie gefragt, warum ältere Menschen oft so schlecht gelaunt erscheinen, warum sie meckern und nicht noch ihr Leben genießen und sie sagte etwas, dass ich auf so viel mehr gerade noch beziehen möchte. Sie sagte: „All ihre Freunde sind tot, oder zu krank. Man fühlt sich alleine.“ und genau das ist es, wie sich die Menschen an der Kasse fühlen werden. Alleine gelassen, im Stich gelassen und nicht in der Lage, sich daraus selbst zu befreien.

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In Heidenau schreien sie dann: „Wir sind das Pack.“ und meinen es Ernst. Sie sind das Pack, sie fühlen sich als Pack und sie gehen auch davon aus, dass das niemals besser werden wird. Es geht hier viel um ein Selbstverständnis, ein Selbstbild, was beeinflusst wurde von Lehrerinnen, die sich sichtlich darüber freuen, dass auch die meisten der schwächeren Kinder in der Klasse, eine Ausbildung gefunden haben und dass andere ihr Abitur machen werden und studieren gehen, vermutlich im Westen. Es ist geprägt von Freibädern, die 10 Jahre lang stillgelegt werden, wo es immer wieder Ideen, Initiativen und Investoren gibt, aber letztendlich doch nichts daraus wird. Von Parkplätzen im nirgendwo, die einmal der erste Schritt zu größeren Projekten sein sollten. Projekte, die nicht kamen und Parkplätze, die jetzt als mahnendes Sinnbild für das Scheitern vieler stehen, die mal vom Aufbau Ost sprachen und dabei vergessen haben, das man irgendwann aufhören muss, in Ost und West zu unterteilen. Es sind nur Himmelsrichtungen, aber sie werden immer noch als stigmatisierende Begriffe benutzt.

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Der Tag der deutschen Einheit hat in NRW für viele erst eine Bedeutung, wenn er auf einen Wochentag fällt. Wenn ich davon erzähle, wo ich herkommen, dann sagen die Leute auch oft: „Du sprichst doch ganz normal.“ und irgendwie klingt die Aussage dann fast so beruhigend, wie damals als man sich über den unterschriebenen Arbeitsvertrag freute.

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Ich habe absolut kein Verständnis für Dinge, die gerade passieren. Sie machen mir Angst und ich will dagegen etwas unternehmen, ohne aktionistisch zu reagieren, ohne blind und wütend darüber zu agieren, auch wenn ich das bin. Ich will verstehen, warum es für Menschen völlig legitim ist, sich selbst als Pack zu beschreiben. Ich will verstehen, wo der Hass herkommt und ich will mit diesem Wissen etwas unternehmen, auch wenn es mich mit einer Aggression erfüllt, wenn ich sehe, wie Staat und Bevölkerung, die Gesellschaft eben, versagen, bei einer eigentlich ziemlich selbstverständlichen Sache.

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Ich habe den Wunsch, dass unsere Gesellschaft stark genug ist, so etwas zu diskutieren und dabei zu erkennen, was nötig ist. Ausgrenzung kann nie die Lösung sein. Es gilt die Menschen einzubeziehen, alle auch Ronny aus dem Osten. Es geht darum niemanden das Gefühl zu geben, dass er chancenlos ist. Es geht darum, nicht nur zu sagen: „Wir schaffen das.“ sonder auch hinzuzufügen, wie wir das schaffen können.

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Zwangsläufig muss sich einiges ändern, nicht nur in Sachsen. Eine Gesellschaft kann immer über sich hinaus wachsen und ich bin ja so ein dummer Typ, der immer Hoffnung hat. Ich sage das etwas zynisch, weil man manchmal schon ein Träumer sein muss, um seine Träume zu verwirklichen und mein Traum ist es gerade, dass wir mit dem Pack fertig werden. Damit meine ich nicht, dass wir das Pack fertig machen, sondern die Ursachen, die dazu geführt haben. Ich will, dass wir mehr aufeinander achten und weniger Menschen alleine lassen.

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Für meine Großmutter ist es schon schön, wenn man sie ab und zu besucht, wenn sie merkt, dass man an sie denkt und sie noch lange nicht alleine ist. Für meine Freunde ist das genauso wichtig und ebenso für alle anderen um mich herum. Ich kann einfach mal freundlich zu Fremden sein. Ich kann ein wenig Empathie beweisen und öfter fragen: „Wie geht es dir?“. Ich kann teilen, wovon ich genug habe und ich kann andere mit einbeziehen, wenn ich mein Leben glücklich und frei lebe. Ich kann das Pack bekämpfen, ich kann den Hass bekämpfen und ich kann gewinnen. Helft ihr mir?

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